Johannes Rau
Vor drei Jahren hatte die Hälfte der Deutschen den Begriff Globalisierung noch nie gehört. Heute kennt ihn praktisch jeder. Keine politische Debatte, keine Rede zur Zukunft der Gesellschaft, keine wirtschaftliche Analyse kommt ohne dieses Wort aus.
Die „Eine Welt“ – vor ein paar Jahren noch die Zukunftshoffnung alternativer Bewegungen und sogenannter „Dritte-Welt-Gruppen“ – scheint nun durch grenzüberschreitende Finanzströme und Firmenfusionen, durch Internet und Mobiltelefon auf ganz andere Weise Wirklichkeit zu werden, als das einst gemeint war.
Das Wort „Globalisierung“ begegnet uns nun beinahe täglich als Argument, als Argument allerdings für alles mögliche: Für radikale Bildungsreformen, für Englisch lernen schon im Kindergarten, aber auch für den Abbau von Arbeitsplätzen, für die Lockerung von ethischen Standards, zum Beispiel in der Gentechnik, für die Verlagerung von Firmensitzen, für den Zusammenschluss von Unternehmen – und schließlich als Grund dafür, dass es das ganze Jahr über Erdbeeren gibt.
Die einen sagen, die Globalisierung führe zum Verlust vertrauter Bindungen und zur Schwächung des Nationalstaates – und sie haben Angst davor. Andere feiern, dass die Herrschaft des Marktes und seiner Gesetze bald überall und für alles gilt.
Manchen erscheint all das wie ein unentrinnbares Schicksal, wie ein Verhängnis, anderen wie die Verheißung eines goldenen Zeitalters. Das Stimmengewirr ist groß und auch die Unsicherheit darüber, was Globalisierung bedeutet – für jeden Einzelnen, für die Familien, für unsere Gesellschaft als ganze:
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn die Firma, in der man arbeitet, plötzlich mit Betrieben aus Gegenden der Welt konkurriert, von denen man bisher kaum gehört hatte.
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn sich junge Leute, die durch die Anden wandern, aus dem Internetcafé in Quito bei ihren Eltern in Oberursel melden und mal eben per E-Mail die ersten digitalen Fotos schicken.
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn wir vom PC aus unseren Urlaub buchen und wenn Studenten sich nachmittags aus dem Internet Material aus Amerika für ihre Hausarbeit holen.
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn in dem Auto, das wir kaufen, die Teile aus vielen Ländern kommen, wenn also das „Made in Germany“ manchmal nur noch für die Idee, für die Endmontage oder für den Namen steht.
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn Menschen in aller Welt am 11. September live miterleben mussten, wie das World Trade Center Tausende von Menschen unter sich begrub.
· Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn aus abgelegenen Berghöhlen ein Verbrechen geplant und gesteuert wird, das die ganze Welt erschüttert.
Aus der Geschichte wissen wir: Nichts, keine technische Erfindung, keine politische Entwicklung, keine gesellschaftliche Veränderung führt automatisch und für alle ausschließlich zum Schlechteren oder zum Besseren. Auch bei der Globalisierung kommt es darauf an, was wir aus den neuen Möglichkeiten machen.
Viele fragen heute aber: Kann man denn überhaupt etwas machen? Ist die Globalisierung nicht unbeeinflussbar, ist sie nicht wie ein Naturereignis, dem wir ausgeliefert sind? Dann wäre es tatsächlich sinnlos, auch nur zu überlegen, wie man gestaltend eingreifen kann und wer das tun sollte. Nein, die Globalisierung ist kein Naturereignis. Sie ist von Menschen gewollt und gemacht. Darum können Menschen sie auch verändern, gestalten und in gute Bahnen lenken.
Man muss aber genau hinsehen: Es gibt großartige neue Chancen – und es gibt handfeste Interessen. Es gibt Leute, die bestimmen – und es gibt Menschen, die haben nichts zu sagen. Es gibt mehr Wohlstand und mehr kulturellen Austausch – und es gibt Länder und Regionen, die werden abgehängt. Wir können und wir müssen fragen: Wer sind – bisher – die Gewinner, wer sind – bisher – die Verlierer der Globalisierung? Wo erschließt uns die Globalisierung Zugang zu fremden Kulturen? Und wo führt sie zu einem undefinierbaren Einerlei der Lebensstile, dazu, dass alle das Gleiche essen und dieselben Filme sehen? Kommen wir uns nicht etwa zu nah? Gehört nicht auch Abstand zu den Fortschritten der Zivilisation, die Möglichkeit, Distanz zu halten?
Von der Globalisierung sind wir alle betroffen – noch bevor alle genau wissen, wie sie eigentlich funktioniert. Darum müssen wir zu begreifen versuchen, was geschieht und warum es geschieht. Wir müssen die Globalisierung als politische Herausforderung verstehen und politisch handeln. Damit wir die Globalisierung gestalten können, brauchen wir neue politische Antworten.
Das Museum für Kommunikation, in dem wir heute zu Gast sein dürfen, hat viel mit unserem Thema zu tun. Es zeigt vor allem: Die Globalisierung gäbe es nicht ohne die rasante Entwicklung der Kommunikationstechniken – eine einzige Geschichte der Beschleunigung. Direkt unter uns, in der Schatzkammer des Museums, liegt die erste deutsche Briefmarke, der „Schwarze Einser“ aus Bayern. Mit der Erfindung der Briefmarke brauchte man Briefe nicht mehr zur Post zu bringen, man konnte sie in den nächsten Briefkasten werfen. Wir finden hier auch die ersten Fernschreiber, Teile der ersten Überseekabel und das erste Telefon von Philipp Reis. Über uns hängen, wie ein Mobile, Hunderte von Mobiltelefonen. Auf der zweiten Etage stehen Computer mit Internetanschluss. Texte, Bilder, Musikstücke, Filme: Fast alles kann ohne Zeitverzögerung gefunden, aufgerufen oder gesendet werden. Endlich scheint alles jederzeit und überall verfügbar zu sein. Etwas ganz Besonderes finden wir unten in der Schatzkammer: das Original des Vertrages über die Gründung des Weltpostvereins. Der kaiserliche Generalpostmeister Heinrich von Stephan hatte intensiv dafür gearbeitet, den Postverkehr weltweit zu regeln. 1874 wurde der Vertrag unterzeichnet – ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Globalisierung. Bis heute sind zwei Punkte an diesem hundertdreißig Jahre alten Vertrag besonders interessant: Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich zur möglichst schnellen, ungehinderten und unzensierten Beförderung und sie regeln die Tarife und den Zahlungsausgleich. Der Weltpostverein als frühe globale Institution zeigt uns also, dass Freiheit und Regulierung sich nicht ausschließen, sondern zusammen gehören, wenn man Erfolg haben will.
Was heute Globalisierung genannt wird, hat historische Wurzeln. Heute wird nicht mit einem Mal alles ganz anders und doch erleben wir mehr als nur die Fortsetzung des Gehabten. Wir erleben Veränderungen von neuer Qualität. Wir sehen, dass sich internationale Beziehungen in bisher nicht gekannter Weise verdichten. Wir erleben das in der Wirtschaft, in der internationalen Arbeitsteilung. Wir erleben das im Verkehr und in der Kommunikation, in der Begegnung mit fremden Menschen und Kulturen, in Umweltfragen und in Rechtsfragen. Wir erleben, wie internationale Netzwerke entstehen. All das zeigt sich besonders deutlich an den Finanzmärkten: Der Handel mit Wertpapieren zwischen den Industrieländern war 1998 dreißig mal so hoch wie 1980. Ausländische Direktinvestitionen, also der Kauf oder die Gründung von Unternehmen in einem anderen Land, haben in den neunziger Jahren um vierhundert Prozent zugenommen. Das bedeutet, dass immer mehr Unternehmen immer stärker international agieren.
Die Globalisierung hat aber Folgen, die über Märkte für Waren und über vernetzte Finanzmärkte hinausreichen: Sie betrifft unseren Umgang mit der Natur, sie betrifft das Leben von Menschen und die Lebensbedingungen in vielen Ländern. Lange schon hat es nicht mehr eine so breite, internationale Protestbewegung gegeben wie die der Globalisierungskritiker. Erstmals seit Jahren finden sich wieder Menschen aus allen Erdteilen, Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und politischer Herkunft für eine gemeinsame Sache zusammen: Vom Bauern in Guatemala bis zur Studentin aus New York, vom Gewerkschaftssekretär in Göppingen bis zum Kardinal von Genua. Diese Bewegung hat viel angestoßen, sie stellt richtige Fragen. Das gilt auch dann, wenn es bei Demonstrationen immer wieder zu Gewalt kommt. Für alle muss gelten, dass Gewalt kein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist.
Vernünftige Kritiker und vernünftige Befürworter der Globalisierung stehen einander nicht unversöhnlich gegenüber.
Die Befürworter betonen Chancen. Die Kritiker wehren sich gegen Fehlentwicklungen und machen auf Gefahren aufmerksam. Kritik ist immer auch eine Art Frühwarnsystem, das Politik und Wirtschaft nicht ignorieren sollten. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1998, Amartya Sen, hat gesagt: „Obwohl ich für die Globalisierung bin, danke ich Gott für die Antiglobalisierungsbewegung.“ Er hat recht.
Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat. Wir müssen uns darüber klar werden, wie wir Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen in Zeiten der Globalisierung sichern und fördern können. Jedem von uns ist seine Freiheit wichtig. Auch die wirtschaftliche Freiheit gehört zu den wesentlichen Freiheitsrechten. Sie ist Voraussetzung für eine leistungsfähige Wirtschaft und Wohlstand für alle. Darum kann man Geld auch mit Recht ein Instrument der Freiheit nennen. Wirtschaftliche Freiheit baut wie alle Freiheit auf Voraussetzungen auf und lebt von Bindungen. Sie ist schnell am Ende, wo keine Ordnung besteht und wo diese Ordnung nicht durchgesetzt werden kann. Dem Markt einen Rahmen zu geben und den Wettbewerb fair zu organisieren, das zählt zu den großen Kulturleistungen der Menschheit.
Kein Mensch ist schon deshalb frei, weil er am Markt teilnehmen kann. Jeder Mensch aber verliert ein Stück seiner Freiheit, wenn er vom Markt ausgeschlossen ist. Nur der kann glaubwürdig für die Freiheit des Marktes eintreten, der sie als einen Teil der umfassenden menschlichen Freiheit begreift. Auch der Markt lebt von Voraussetzungen, die er nicht selber schaffen kann.
Wenn jetzt der Markt global wird, dann brauchen wir auch Ordnungen, die weltweit die Freiheit der Menschen sichern. Dann muss die Politik dafür sorgen, dass die Freiheit des globalen Marktes die Freiheit der Menschen nicht beschädigen kann. Alle müssen an den Vorteilen teilhaben können, die die weltweite Arbeitsteilung mit sich bringt. Davon sind wir weit entfernt. Die Globalisierung ist noch gar nicht so global, wie sie sich anhört:
In den ärmsten Staaten der Welt leben heute vierzig Prozent aller Menschen, ihr Anteil am Welthandel liegt unter drei Prozent. Über drei Viertel des Welthandels hingegen entfallen auf knapp sechzehn Prozent der Weltbevölkerung. Über achtzig Prozent der Direktinvestitionen konzentrieren sich auf nur zehn Länder. In Afrika leben dreizehn Prozent der Weltbevölkerung; sie haben aber nur 0,3 Prozent aller Internetanschlüsse. Da gibt es nichts herumzureden: Bisher droht die Globalisierung den Globus zu zerstückeln.
Wir können den Markt niemals allein von seinen beeindruckenden Ergebnissen für die Gewinner her beurteilen. Wir müssen immer auch fragen, wie diese Ergebnisse zustande gekommen sind. Eine Politik der Freiheit wird nur dann auch wirtschaftlich überzeugen, wenn sie Menschen befreit von Ausbeutung, aus Armut und Überschuldung, wenn sie für gleiche Chancen sorgt, wenn sie zu gegenseitigem Respekt beiträgt und wenn sie alle teilhaben lässt an dem, was den Globus bewegt. Um nicht mehr und um nicht weniger als um eine solche freiheitliche Ordnung geht es.
Die Freiheit jedes einzelnen Menschen zu sichern, das ist so wichtig, weil wir Menschen gleich an Rechten sind und doch ganz verschieden. Wir sind verschieden und wir wollen das sein. Von diesen Unterschieden und dem Wunsch nach Verschiedenheit lebt auch der Markt. Unterschiede machen das Leben schön, spannend und manchmal auch spannungsvoll. Es gibt aber ein Maß an sozialer Ungleichheit, das wir nicht wollen, ja das schädlich ist. Gewiss, weltweit hat sich in den letzten Jahren vieles zum Besseren verändert: Die Einkommen in den ärmsten Länder haben sich in den vergangenen dreißig Jahren pro Kopf mehr als verdoppelt, die durchschnittliche Lebenserwartung ist weltweit um zwanzig Jahre gestiegen, die Kindersterblichkeit ist zurückgegangen, weltweit hat der Hunger abgenommen, der Analphabetismus ist gesunken.
Es stimmt aber auch, dass die Unterschiede zwischen den Lebensbedingungen der Menschen immer größer werden - weltweit und innerhalb der Gesellschaften: Eine Milliarde Menschen haben nicht einmal Zugang zu sauberem Wasser. Ein Kind in den Industrieländern konsumiert heute im Durchschnitt fünfzig mal so viel wie ein Kind, das in einem Entwicklungsland zur Welt kommt.
In den sogenannten Schwellenländern, beispielsweise in Argentinien, droht der neue Mittelstand zu verarmen. Wohlsituierte Bürgerinnen und Bürger gehen auf die Straße.
In den USA verdiente 1970 ein Manager im Durchschnitt sechsundzwanzig mal so viel wie ein Industriearbeiter. 1999 waren es vierhundertfünfundsiebzig mal so viel. Wir sollten in Deutschland einen anderen Weg gehen. In manchen Industrieländern verdienen viele Beschäftigte heute weniger als ihre Eltern verdient haben. Wenn die soziale Ungleichheit zu groß wird, dann sagen viele Menschen: „Das ist nicht mehr meine Gemeinschaft. Hier habe ich keine faire Chance.“ Wo sich das Gefühl ausbreitet, dass es nicht gerecht zugeht, da reagieren die Menschen mit Rückzug oder Protest, mit Verweigerung oder gar mit Gewalt. Horst Köhler, der Chef des Internationalen Währungsfonds, sagt: „Die extremen Ungleichgewichte in der Verteilung der Wohlfahrtsgewinne werden mehr und mehr zu einer Bedrohung der politischen und sozialen Stabilität.“ Er hat recht.
Manche Wirtschaftswissenschaftler glauben, dass man angeben kann, von welchem Punkt an höhere Steuersätze zu niedrigeren Steuereinnahmen führen. Wir brauchen aber auch mehr Wissen über die Frage, wie viel soziale Gleichheit notwendig ist und von welchem Punkt an Ungleichheit sozial unannehmbar und wirtschaftlich schädlich wird. Wir brauchen auch in Deutschland eine Diskussion darüber, wie viel soziale Ungleichheit wir hinnehmen können im eigenen Land und weltweit. Das hat übrigens mit einer Neiddiskussion nichts zu tun.
Freiheit und Gerechtigkeit – das sind Werte, an denen wir uns orientieren müssen, wenn wir die Globalisierung wirtschaftlich und politisch auf einen guten Weg bringen wollen. Die Überschuldung vieler Länder ist nicht ein bloß ökonomisches Problem. Sie ist ein existentielles Problem für viele Menschen. Die Verschuldung ihrer Länder nimmt ihnen die Freiheit, an den Vorteilen der Globalisierung teilzuhaben. Korruption und Misswirtschaft sind schlimme Ursachen der dramatischen Situation vieler Länder. Dagegen muss etwas in den Ländern selber getan werden. Auch die geltenden Regeln für den internationalen Kapitalverkehr machen aber fragwürdige Finanztransaktionen immer noch zu leicht. Viel zu lange ist das Schuldenproblem der Entwicklungsländer nur als Problem zeitlich begrenzter Zahlungsunfähigkeit und nicht als strukturelles Problem verstanden worden. Die Bemühungen, eine Lösung durch immer neue Kredite und durch das Strecken der Schulden zu erzielen, mussten daher immer tiefer in die Krise führen. Die Kölner Entschuldungsinitiative der G-8 im Jahr 1999 hat den dreiundzwanzig am höchsten verschuldeten Ländern bisher mit einem Volumen von dreiundfünfzig Milliarden US-Dollar geholfen. Das ist ein großer Schritt auf einem neuen Weg. Alfred Herrhausen hatte übrigens schon Ende der achtziger Jahre dazu geraten, diesen Weg zu wählen. Den Gläubigerbanken hat er gesagt: „Die Insolvenzkrise bedarf zu ihrer Lösung auch der Schuldenerleichterung.“ Und er hat hinzugefügt: „Hier steht mehr auf dem Spiel als Kapital und Zinsen.“ Darum brauchen wir weitere Initiativen. Wir brauchen eine Insolvenzordnung für Staaten. Bei den bisherigen Versuchen, Schuldenprobleme zu lösen, treten die Gläubiger zugleich als Gutachter, als Kläger und als Richter auf. Ich bin froh darüber, dass auch im Internationalen Währungsfonds jetzt ernsthaft über Reformen gesprochen wird. Wenn es ein internationales Insolvenzverfahren gäbe, mit dem die Überschuldungsprobleme gelöst werden können, dann wäre das ein überzeugendes Signal für eine verantwortliche Gestaltung der Globalisierung. Wie bei einem privaten Konkurs sollte der Grundsatz gelten, die Geschädigten zu unterstützen und den Gestrauchelten wieder aufzuhelfen. Ein faires Insolvenzverfahren für Staaten – das hat schon 1776 ein schottischer Nationalökonom gefordert, der noch heute von vielen fast wie ein Kirchenvater von Markt und Freihandel verehrt wird. Adam Smith wusste eben auch, wie notwendig die sichtbare Hand staatlicher Ordnungspolitik ist.
Die armen Länder können viel tun, um sich selber zu helfen. Das setzt aber voraus, dass wir ihnen auch im Handel faire Chancen geben und unsere Wirtschaft nicht da abschotten, wo die Entwicklungsländer mit ihren Produkten konkurrenzfähig wären. Der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Ottmar Issing, hat recht, wenn er feststellt: „Es ist schon ein seltsames Verständnis von Ethik und Moral, wenn reiche Länder die technischen Eliten aus Entwicklungsländern anheuern, gleichzeitig aber den Produkten, die in diesen Ländern mit billiger Arbeit produziert werden, den Zugang versperren.“ Die Mitglieder der Welthandelsorganisation verhandeln seit vielen Jahren über weitere Liberalisierung. Da treffen unterschiedliche Interessen aufeinander. Häufig gilt für alle der Grundsatz: Wir sind für freien Welthandel, wenn er uns nutzt. Das kennen die Vereinigten Staaten von Amerika von uns und wir kennen es von ihnen.
Wir müssen unsere Märkte schrittweise für alle Produkte der Entwicklungsländer öffnen. Deshalb ist es zum Beispiel richtig, dass die Europäische Union ihre Export-Subventionen für Getreide in wenigen Jahren ganz abbauen will. Ich weiß freilich, dass das zu Strukturproblemen in unserer eigenen Wirtschaft führt. Darum muss sich die Politik rechtzeitig kümmern.
Von den Entwicklungsländern können wir nur dann erwarten, dass sie weltweit hohe soziale und ökologische Standards für die Produktion akzeptieren, wenn wir selber bereit sind, unsere Märkte zu öffnen. Durch finanzielle und technische Unterstützung müssen wir dazu beitragen, dass diese Länder die Standards einhalten können, die im Interesse aller nötig sind. Übrigens: Heute haben neunzig Prozent der Gelder, die täglich um die Welt zirkulieren, nichts mehr mit dem Austausch von Gütern und Dienstleistungen zu tun. Über zwei Billionen Euro, über zweitausend Milliarden, wechseln täglich aus spekulativen Gründen immer wieder den Ort. Das kann ganze Länder sozial und politisch destabilisieren, ja das kann sie in den wirtschaftlichen Ruin treiben.
Inzwischen gibt es eine ganz große Koalition, der nicht nur bekannte Globalisierungskritiker, sondern auch Politiker aus allen Lagern und Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften angehören, die sich in einem einig sind: Wir müssen etwas gegen die Spekulation tun und wir können auch etwas tun. Ich weiß nicht, ob die sogenannte Tobin-Steuer auf Devisenspekulation das beste Instrument dafür ist. Ich weiß aber, dass die Politik dringend Instrumente für eine internationale Finanzmarktordnung schaffen muss, wenn sie dies Problem beherrschen will und damit sie es beherrschen kann.
Wenn Probleme global werden oder sind, dann muss auch die Politik global handeln. Da geht es um Klimaschutz und um das internationale Finanzsystem, um Standortwettbewerb und Sozialdumping, um Wirtschaftskrisen und Fluchtursachen. Wie wir die globalen Herausforderungen gleichberechtigt gestalten können, das diskutieren wir inzwischen unter dem englischen Schlagwort „global governance“.
„Global governance“ heißt nicht Weltregierung und schon gar nicht, dass der Nationalstaat überflüssig wird. Die Staatengemeinschaft muss aber konstruktiv zusammenwirken. Wir brauchen regionale und weltweite Kooperation, aber keinen Zentralismus, wir brauchen multilaterale Zusammenarbeit und nicht die Vorrangstellung einzelner.
Die weltweite Zusammenarbeit ist viel weiter fortgeschritten, als uns manchmal bewusst ist: Globale und regionale Organisationen überwachen Wahlen, bekämpfen neue Formen der organisierten Kriminalität und beschließen über humanitäre Interventionen. Auch Rüstungskontrolle und Abrüstung sind wichtige Elemente eines internationalen Ordnungsrahmens. Am wichtigsten sind die Vereinten Nationen. Sie müssen gestärkt werden. Die Vereinten Nationen sind ja weit mehr als der Weltsicherheitsrat. Sie beschäftigen sich mit Fragen der Gesundheit und des Arbeitsschutzes, mit globalen Umweltfragen und mit dem Kampf gegen Hunger und Armut. Die Debatte über die Reform der Vereinten Nationen ist endlich im Gang. Es ist gut, dass sich viele daran beteiligen. Heute stehen wir vor anderen Aufgaben als vor fünfzig Jahren. Dem müssen die Vereinten Nationen Rechnung tragen.
„Global governance“ – dazu gehört auch eine weltweit anerkannte Rechtsordnung. Wir brauchen zuverlässige und unabhängige Gerichte und Schiedsstellen, die Streitfälle schlichten, Verbrechen international ahnden und dafür sorgen, dass jeder die Hand des Rechts fürchten muss, der die internationale Ordnung verletzt. Ich gestehe: Es bereitet mir Sorge, dass das Projekt, einen Internationalen Strafgerichtshof einzurichten, jetzt einen so schweren Rückschlag erlitten hat.
Drei Institutionen bestimmen heute in besonderer Weise die Art und Weise, wie Globalisierung stattfindet: Der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation. Die Arbeit dieser Institutionen wird natürlich auch kritisiert. Manche werfen ihnen vor, dass sie von einseitigen Interessen und unkritischer Marktgläubigkeit bestimmt seien. Die Entwicklungsländer müssen stärkeres Gewicht bekommen in den Entscheidungsgremien von Weltbank, Weltwährungsfonds und Welthandelsorganisation. Diese Organisationen sind den Menschen auf dem ganzen Globus verpflichtet und nicht wirtschaftlichen oder anderen Einzelinteressen.
Wir Europäer müssen unsere Vorstellungen einer sozial und ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft noch stärker als bisher einbringen. Auch das gehört dazu, wenn wir weltpolitisch mehr Verantwortung übernehmen sollen und wollen. Regionale Kooperation stärkt internationale Zusammenarbeit. Sie gewinnt die Souveränität zurück, die demokratisch bestimmte Macht, die die einzelnen Nationalstaaten im Zuge der Globalisierung verloren haben. Die Europäische Union ist ein gelungenes Beispiel dafür. Sie kann und muss einen wichtigen Beitrag zur Globalisierung leisten. Als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit ist sie ein Vorbild für andere Regionen. Wichtige Impulse für die politische Gestaltung der Globalisierung gehen heute auch von den Nichtregierungs-Organisationen aus. Sie helfen, Probleme zu erkennen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Unternehmen und Unternehmer tragen Verantwortung nicht nur gegenüber ihren Eigentümern und ihren Arbeitnehmern. Sie haben auch eine gesellschaftliche Verantwortung in der Stadt, in der Region und in dem Land, in dem sie wirken. Bei vielen Unternehmen in Deutschland hat das gute Tradition.
Kofi Annan hat 1999 die multinationalen Unternehmen zu einem „global compact“ aufgerufen. Sie sollen sich verpflichten, an allen Produktionsstandorten die Menschenrechte zu achten, weder Zwangsarbeit noch Kinderarbeit zu nutzen und ökologisch verantwortlich zu wirtschaften. Diesem Aufruf sollten noch mehr Unternehmen folgen. Im Internet kann übrigens jeder nachschauen, welche Unternehmen sich weltweit ihrer sozialen Verantwortung stellen und wie sie das tun. Alle multinationalen Unternehmen müssen sich die Frage stellen lassen, ob sie diese Standards einhalten.
Die Gewerkschaften haben sich seit ihrer Gründung immer international verstanden, weil Solidarität nicht an Grenzen Halt machen darf. Sie müssen heute mehr denn je dafür kämpfen, dass Arbeitnehmer in verschiedenen Ländern nicht gegeneinander ausgespielt werden. Jeder von uns kann etwas tun. Jeder kann zu einem fairen Welthandel beitragen. Das scheint naiv, aber es gibt gute Beispiele dafür. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher kaufen fair gehandelten Kaffee, Orangensaft und Kakao. Waren mit Transfair-Siegeln hatten im vergangenen Jahr in Deutschland einen Umsatz von dreiundfünfzig Millionen Euro. Beim Kaffee liegt ihr Marktanteil nur bei einem Prozent, bei Tee nur bei 2,5 Prozent. Da ist wahrlich noch viel Spielraum nach oben. Ein anderes Beispiel ist das Warenzeichen „Rugmark“, das garantiert, dass ein Teppich nicht von Kindern geknüpft worden ist.
Für einen fairen Welthandel haben sich schon früh die christlichen Kirchen eingesetzt. Dafür möchte ich ihnen danken. Kirchen wirken weltweit und sind gleichzeitig in Gemeinden und Gemeinschaften verwurzelt. Sie geben vielen Menschen Heimat und den Blick für die Nöte der Welt. Beides brauchen wir gerade in Zeiten der Globalisierung. Übrigens: Wie sehr unsere Konsumgewohnheiten die Verkehrssituation und die Umwelt beeinflussen, das zeigt mir das folgende Beispiel. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, dass es bei uns fast überall Mineralwasser aus der ganzen Welt zu kaufen gibt. Manche sagen: Solange jemand bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen, geht das in Ordnung. Aber ist es denn wirklich richtig, dass in kleine Glasflaschen abgefülltes Wasser auf Schwerlastern über die Alpen gefahren wird oder aus Neuseeland zu uns kommt? Dies Wasser lässt sich nur verkaufen, weil die Umweltkosten nicht im Preis enthalten sind, die der Transport über tausende Kilometer verursacht. Hier werden Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt. Hier wird auf Kosten zukünftiger Generationen gewirtschaftet. Das leisten wir uns schon zu lange. Das kommt uns auf Dauer teuer zu stehen. Wir sollten uns nicht alles leisten, was wir heute bezahlen können.
Mit Globalisierung verbinden viele Menschen die Angst, etwas zu verlieren: Heimat, Identität, die Möglichkeit, auf das Einfluss zu nehmen, was das eigene Leben bestimmt. Für andere Länder gilt das gewiss noch viel stärker als bei uns in Deutschland. Wir alle wissen, wie schwierig es schon ist, die wirtschaftliche Globalisierung Schritt für Schritt politisch zu gestalten. Noch ungleich schwieriger aber ist es zu verhindern, dass Globalisierung auch zum Verlust kultureller Vielfalt und kultureller Identität führt.
Wir erleben ja heute nicht so sehr das Entstehen einer neuen Kultur aus vielen verschiedenen Wurzeln. Was uns bei uns begegnet, das ist europäisch und nordamerikanisch geprägt und uns daher in Vielem vertraut. Für viele Menschen bedeutet Globalisierung aber, dass ihre Traditionen und ihre Weltsicht verdrängt und überlagert werden. Diese Menschen kennen die Vorteile, die der wirtschaftliche Fortschritt mit sich bringt, und sie schätzen diese Vorteile. Sie merken aber auch, wie wenig ihre Überlieferungen, ihre Kultur, einfach: ihr Anderssein respektiert wird, wenn es darum geht, dem wirtschaftlichen Fortschritt, dem globalen Markt den Weg zu ebnen. Diese Menschen fühlen sich in ihrer Würde verletzt. Sie fühlen sich als Verlierer und viele sind es tatsächlich. Wer sich heimatlos und entwurzelt fühlt, der wird leicht zum Opfer fundamentalistischer oder populistischer Parolen. Das erleben wir seit vielen Jahren nicht nur in fernen Ländern. Politische Extremisten finden auch in europäischen Ländern viel Zulauf und gewinnen bei Wahlen erschreckend viele Stimmen.
Wir können diese gefährliche Entwicklung nur eindämmen, wenn wir Entfremdungsgefühle ernst nehmen und ihren Ursachen nachgehen. Eine Globalisierung, die Menschen überfordert, schadet letztlich unseren Gesellschaften insgesamt. Auch das zeigt, dass Globalisierung politisch gestaltet werden muss. Ich spreche viel und oft über die Begegnung und über den Dialog der Kulturen. Das ist ein ganz wichtiges Thema. Dabei muss aber noch viel stärker als bisher in den Blick kommen, dass wir den Dialog auch im eigenen Land brauchen.
Einen wirklichen Dialog kann man nur führen, wenn die beteiligten Partner sich gegenseitig wirklich ernst nehmen, wenn das Bewusstsein und das Gefühl gleichen Wertes und gleicher Würde vorhanden ist. Wer einen Dialog führt, der muss auch akzeptieren, dass er nicht allein im Vollbesitz der ganzen Wahrheit ist. Um es mit den Worten von Hans Georg Gadamer zu sagen: Wer in einen Dialog eintritt, der lässt sich darauf ein, dass der Andere vielleicht Recht haben könnte. Nur wenn wir bereit sind, unterschiedliche kulturelle, religiöse, wirtschaftliche und politische Identitäten und gesellschaftliche Gestaltungsideen zu respektieren, nur dann gelingt es uns, im eigenen Land und in der einen Welt zusammen zu arbeiten und friedlich zusammen zu leben.
Das internationale Umfeld, in dem die deutsche Wirtschaft agiert, hat sich in den letzten Jahren verändert. Der internationale Wettbewerb ist schärfer geworden. Das spüren nicht nur Unternehmer, das spüren auch die Arbeitnehmer. Handwerksbetriebe merken, dass die Zahl der Anbieter für Vorprodukte sinkt, dass die Nachfragemacht großer Konzerne zunimmt, dass der Preisdruck steigt. Noch nie haben sich so viele Arbeitnehmer Sorgen gemacht, ob ihr Unternehmen zum Übernahmeobjekt ausländischer Konzerne werden könnte und was dann aus ihnen würde. Das ist Gesprächsthema in den Betrieben, an der Theke und zu Hause. Die Menschen stellen fest: Die immer wieder geforderte permanente Mobilität hat konkrete Auswirkungen für die Familien, für den Freundeskreis oder den Verein. Wenn beide Ehepartner berufstätig sind und beide flexibel und mobil sein sollen, dann stehen sie vor der Frage, ob einer von ihnen den Beruf aufgeben muss oder ob die Wochenend-Ehe zum Normalfall werden soll.
Unser Grundgesetz schützt Ehe und Familie besonders. Dennoch scheitern Pläne und Beziehungen an Rahmenbedingungen, die besonders Müttern immer wieder ein schlechtes Gewissen machen, weil sie keine gute Betreuung für ihre Kinder finden. Menschen sind nicht so mobil und nicht so bindungslos wie Kapital, und sie werden und sie wollen es auch nie sein. Wir brauchen Heimat und Bodenhaftung. Wir brauchen familiäre Bindungen, Freunde, Bekannte, ein starkes soziales Netz. Menschen brauchen Wärme und sie brauchen Geborgenheit. Wer das für altmodisch hält, der täuscht sich. Die Politik muss Ängste und Unsicherheiten ernst nehmen. Sie muss Orientierung bieten. Manche deutsche Unternehmen versuchen, dem Begriff der Flexibilität in ihrer Personalpolitik einen neuen Sinn zu geben: Sie wollen die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter flexibel aufnehmen. Sie wissen: Ein Unternehmen, das die Interessen und die Lebenssituation der Beschäftigten nicht ernst nimmt, das wirtschaftet auf Dauer nicht erfolgreich. Das wird in den kommenden Jahren noch wichtiger, wenn die Zahl der Berufstätigen aus demographischen Gründen zurückgehen wird. Unternehmen erwarten von der Politik zu Recht, dass sie ihnen Planungssicherheit gibt. Weniger Sicherheit als den Unternehmen darf man auch den Menschen nicht zumuten.
Ein soziales Sicherungssystem, das die großen Lebensrisiken auffangen kann, stärkt die Freiheit des Einzelnen. Wer Angst hat vor dem, was morgen wird, der klammert sich mit aller Kraft an das, was heute ist. Ein Grundgefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit macht offen für neue Wege. Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil er die Menschen entlastet und Freiraum schafft für Kreativität und Leistung.
Ganz gewiss brauchen wir Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen. Wir müssen über Bismarck hinaus, aber nicht hinter Bismarck zurück. Dass die Menschen auf Solidarität und Gerechtigkeit im Inneren vertrauen können, das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mehr Gerechtigkeit im globalen Maßstab erreichen können.
Nicht nur in Deutschland führen wir seit vielen Jahren eine Standortdebatte. Ich trete dafür ein, dass wir offen über Probleme und Mängel, über Schwächen und Versäumnisse sprechen. Ich bin aber auch immer wieder erstaunt darüber, mit welcher Lust und mit welcher Energie wir unser Land schlecht reden und unsere Zukunft schwarz malen. Ist diese Art der Standortdebatte inzwischen nicht selber ein Standortproblem? Ohne Vertrauen in die eigene Kraft kann kein Einzelner und kann kein Land seine Zukunft gestalten. Wir haben keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, aber viele Gründe zu Selbstvertrauen. Die Geschichte seit Kriegsende und nach der staatlichen Einheit Deutschlands zeigt: Wir können stolz sein auf das Erreichte, und wir können Vertrauen haben in unsere Gestaltungskraft. Das gilt nicht zuletzt auf wirtschaftlichem Gebiet: Wir haben hervorragend qualifizierte Arbeitnehmer. Deutschland ist die zweitgrößte Exportnation der Welt. Das ist nicht gerade ein Zeichen für mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die USA, Japan und Deutschland bilden das Spitzentrio beim weltweiten Handel mit High-Tech-Waren. All das ist keine Selbstverständlichkeit. Das verdanken wir der Arbeit und der Motivation der Menschen in Deutschland. Dafür, dass das so bleibt, müssen wir die Voraussetzungen immer wieder neu schaffen. Das kann uns auch in Zeiten der Globalisierung gelingen.
Ich wiederhole: Viele Menschen verbinden mit dem Wort Globalisierung Sorgen und Ängste. Wir können die Globalisierung als Chance nutzen, wenn wir sie nicht als Schicksal hinnehmen, sondern als politische Aufgabe entdecken und ernst nehmen. Die Globalisierung ist eine Chance, wenn wir uns am Leitbild der Freiheit und Gleichheit aller Menschen orientieren. Die Globalisierung ist eine Chance, wenn Menschen unterschiedlicher Kulturen einander achten. Für uns in Deutschland ist die Globalisierung eine Chance, wenn wir unser Bildungswesen für alle verbessern, wenn wir etwas für alle tun, für die besonders Begabten genauso wie für jene, die sich schwer tun, für Naturwissenschaften und Sprachen genauso wie für die musische Erziehung. Die Globalisierung ist eine Chance für uns, wenn wir es schaffen, unser Steuersystem einfacher, transparenter und gerechter zu gestalten. Moderne Steuerpolitik darf nicht zum Steuersenkungswettlauf werden – weder zwischen Parteien noch zwischen Staaten. Die Globalisierung ist eine Chance für uns, wenn wir unsere Sozialsysteme stärken, wenn wir sie solidarisch halten und effizienter organisieren. Die Globalisierung ist eine Chance für uns, wenn wir die öffentliche Verwaltung leistungsfähiger und bürgernäher machen, weil wir den Wert öffentlicher Institutionen kennen. Die Globalisierung ist eine Chance für uns, wenn wir wissen, wo wir zu Hause und wo wir verwurzelt sind. Dann gelingt es uns auch, Fremde zu integrieren und Zuwanderung zu gestalten. Ob wir Erfolg haben, das hängt auch davon ab, dass wir Verlierer nicht an den Rand drängen, sondern dass alle die Möglichkeit haben, aus ihrem Leben etwas zu machen.
Wenn Menschen sich abgehängt fühlen, wenn sie erleben, dass die Globalisierung ohne sie oder gar gegen sie läuft, dann werden sie zu Gegnern der Globalisierung und auch zu Gegnern von Demokratie und Rechtsstaat. Die Globalisierung fordert uns heraus. Wir müssen und wir können sie politisch gestalten. Das erfordert viel, aber nicht mehr als wir leisten können. Wir haben gelernt, dass der Staat keine Wunder vollbringen kann. Wir sollten darüber nicht vergessen, dass auch der Markt nicht die Patentlösung für jedes Problem bieten kann - bei allem, was er leistet. Die Globalisierung wird dann ein Erfolg, wenn die Dynamik der Marktkräfte politisch in gute Bahnen gelenkt wird. Die Menschen überall auf der Welt müssen erleben, dass sie im Mittelpunkt stehen. Sie müssen erkennen können: Die Politik und die Wirtschaft werden um der Menschen willen gemacht. Das gilt es neu zu entdecken.
„Berliner Rede“ des Bundespräsidenten im Museum für Kommunikation Berlin.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 2 • Heft 3 • 1. Halbjahr 2003